Während meiner jahrelangen Unterrichtstätigkeit wurde mir diese Frage immer wieder gestellt und ich musste mich mit Kritik an den Kettenfauststößen oder falsch verstandenem Allvertrauen in ebendiese auseinandersetzen. Vor ein paar Wochen las ich dann einen Artikel der „Wing Chun Illustrated“, der genau dieses Thema behandelte. Sifu Donald Mak fasste hier die wichtigsten Konzepte und Ideen zu den sogenannten „Kettingern“ zusammen und ich kam ins Grübeln. Nicht, dass ich nicht in den wichtigsten Punkten mit ihm übereinstimme. Nein, es ging mir nun mehr um die Entstehung meiner Überzeugungen und um die Ideen meiner Schüler. Meist erlebte ich zwei völlig konträre Standpunkte, wenn es um Fauststöße ging. Die meisten Anfänger vertrauen den Kettenfauststößen nach einiger Zeit blind, fest davon überzeugt, dass diese eine perfekte Erfindung des Wing Chun sind und ihnen in jeder Bedrohungslage zum Sieg verhelfen werden. Aber dann war da auch noch die andere Seite, nämlich jene, die vorher, oder parallel, andere Kampfsportarten trainierten. Boxer sind den Kettenfauststößen gegenüber meist sehr kritisch eingestellt, wenn sie diese erlernen, da sie sie für ungeeignet halten, gegen erfahrenen Kämpfer damit anzutreten. Dieser Kritik musste ich als Lehrer immer wieder begegnen und versuchen diese zu entkräften bzw. ins rechte Licht zu rücken. In meiner eigenen Entwicklung waren es zu Anfang meiner Wing Tsun „Karriere“ die sogenannten Blitz-Kombis, die ich als höchst selbstverteidigungstauglich empfand. Die Kettenfauststöße waren eher die letztmögliche Notlösung. In meiner Vorstellung wiesen diese, spätestens vor Gericht große Schwierigkeiten auf, da fünf bis sieben Fauststöße ins Gesicht wohl schnell als übertriebener Selbstschutz gedeutet werden könnten, und ich somit vor Gericht nun auch noch dafür bestraft werden würde, wenn ich mich mit diesem Mittel verteidigte. Nichts desto trotz erachtete auch ich sie damals als extrem effektives Mittel in absoluten Notsituationen. Mit den Jahren und der Auseinandersetzung mit anderen Kampfkünsten und einiger Sparringerfahrung, gelangte ich zu dem Schluss, dass wohl andere Techniken wie Jabs, Haken und Uppercuts besser geeignet wären, um in einem Kampf zu bestehen. Viele Konzepte borgte ich aus anderen Kampfkünsten, um Probleme zu lösen, auf die mir Kettenfauststöße (und andere Wing Tsun Techniken) keine Antwort gaben. Als ich anfing mich vor Jahren auch mit anderen Wing Chun Stilen auseinanderzusetzen, änderte sich meine Meinung langsam. Die einprägsamste Erfahrung hier war wohl der Kontakt mit dem Ving Tsun Wong Shun Leung’s in der Linie Philipp Bayer’s. Nun hatte ich ein völlig neues, funktionales Bild zu den „Kettingern“ und ihrer Verwendung gewonnen.
Heute würde ich die Frage nach der Effektivität der Kettenfauststöße mit Ja und Nein gleichzeitig beantworten. Sifu Mak ist in seinem Artikel der Meinung, dass gerade die in den Ip Man Filmen gezeigten Kettenfauststoßtechniken nicht realistisch sind und er hat vollkommen recht. Kein Kämpfer benötigt 10 Fausstöße auf die Brust des Gegners um diesen zu Boden zu schicken, bzw. auszuknocken Es gibt nur zwei Möglichkeiten bei einem Fauststoß, entweder er trifft, oder er trifft nicht.
Wenn der Fauststoß trifft, benötigen wir ein bis drei wirklich kräftige, aufeinanderfolgende Fauststöße um einen Gegner auszuschalten. Wenn wir mehr benötigen, wird es für uns gefährlich, denn dann wird der Gegner durch die Ersten, die er anscheinend erfolgreich schlucken konnte, nur noch wütender und es entwickelt sich ein Schlagabtausch. In diese, Fall verwende ich wieder keine Kettenfauststöße, sondern ChiSao Fähigkeiten und schnelle Reflexe, um seine Angriffe abzuleiten und mich zu schützen.
Wenn der Fauststoß nicht trifft, wird der Gegner ausgewichen sein, entweder seitlich oder nach hinten. Nun ist es nicht ratsam, ihn mit immer der gleichen Technik zu verfolgen, denn so kann er antizipieren und uns um unseren Fauststoß herum angreifen. Auf Youtube gibt es zuhauf Videos, die die Wirkungslosigkeit solcher falsch verstandenen Kettentechniken demonstrieren. Ein nicht kleiner Teil der Vorurteile, dass Wing Chun in Wirklichkeit gar nicht funktioniere, leitet sich von den Niederlagen dieser Kettenfauststoßfetischisten ab, denn auch sie haben die Technik des Fauststoßes falsch verstanden, oder falsch gelernt bekommen.
Aber sehen wir uns die Trainingsmethode erst einmal an…
Eine alte Wing Chun Regel besagt, man sollte jeden Tag Kettenfauststöße üben, diese sollten so schnell und so locker wie möglich ausgeführt werden. Tunlichst vermeiden wir, den Bizeps anzuspannen und werfen unsere Fäuste nach vorne. Meine gesamte Gelenkskette ist bei den Fauststößen locker, die Schultern entspannt und nicht nach oben gezogen. Allerdings muss der Ellenbogen gleichzeitig immer schwer bleiben, d.h. nach unten ziehen und nach voller Streckung des Arms sofort wieder leicht abwinkelt werden (auch wenn ich Anfänger Schritt für Schritt unterrichte und diesen erst einmal beibringe den Arm durchzustrecken, um so sich selbst und die Position kontrollieren zu können). Die richtige Übung beruht auf dem Prinzip der endlosen Wiederholung, um dadurch die korrekte Kraftübertragung zu erlernen, die Muskeln, welche für diese Bewegung benötigt werden zu trainieren, die korrekte Körperhaltung einzunehmen und diverse andere Aspekte zu üben. Kungfu ist „bitter essen“ wie ein chinesisches Sprichwort sagt, und so ist es auch bei den Fauststößen. Erst wenn diese 10.000 Mal „verdaut“ wurden, stellt sich Effektivität ein und darum werden die Fauststöße an einer „Kette“ aneinandergereiht.
Die Anwendung am Partner oder Gegner gestaltet sich allerdings etwas anders, denn hier kann ich nicht einfach mit Kettingern auf ihn zustürmen und hoffen, dass er vor Schreck gelähmt stehen bleibt. Nein, ich benötige das richtige Timing und die richtige Postition. Sifu Mak erklärt, was Kettenfauststoß, auf Cantonesisch „Yat Jee Chung Kuen“, übersetzt bedeutet. Yat Jee bedeutet so viel wie die Sonne und meint die stehende Position der Faust, welche Ähnlichkeit mit dem chinesischen Zeichen für Sonne (Mandarin: rì,日) hat. Kuen bedeutet Faust oder Stil. Chung wird oft als Zentrum oder Mitte, wie in Zentrallinie gedeutet, aber mit einer etwas anderen Tonalität ausgesprochen bedeutet es noch etwas anderes, nämlich in etwas hineinstürmen. Und hier wird die Qualität des Fauststoßes deutlich. Wir benötigen einen entschlossenen Angriffsimpuls nach vorne, um unsere Fauststöße einsetzen zu können. Und woher bekommen wir diesen? Natürlich nur durch unsere Beinarbeit. Der Wing Chun Fauststoß hat keinen Wert, wenn ich mich nicht bewegen kann, dem Angriff des Gegners ausweiche und von der Seite hineinstürme oder direkt seinen Angriff mit meinem tiefen Ellenbogen oder einer andern Technik abfange, nur um gleichzeitig zu treffen. Ein Mal genügt dann meistens!
Im ChiSao benützen wir die Fauststöße um zu treffen, aber nicht getroffen zu werden, wir wechseln schnell die Seite und verschieben die Zentrallinie des Gegners mit unseren tiefen Ellenbogen, während wir schon angreifen, und können auf kürzeste Distanz noch Kraft übertragen um unseren Gegner auszuschalten. Trotzdem kann aus einem Fauststoß noch immer eine andere Technik, ein BongSao oder ein JumSao, werden – dafür müssen wir locker sein! Viele Techniken basieren auf der Ellenbogenkraft, die wir durch der Übung der Kettenfauststöße gelernt haben. Auch hier brauchen wir Timing, Flexibilität und eine gute Position zum Gegner.
Ein Fauststoß ist immer ein Ganzkörperschlag, wir bewegen uns mit jedem „Kettinger“ im Raum, blocken* mit ihm und formen ihn bei Bedarf zu einer anderen Technik um. Lebendig und effektiv wird der Fauststoß erst in Verbindung mit der richtigen Beinarbeit, dem entsprechenden Timing, und dann genügen auch ein bis drei Fauststöße. Mit richtig verstandenen Wing Chun Fauststößen kann man dann auch eingefleischte Boxer davon überzeugen, dass der „Yat Jee Chung Kuen“ effektiv ist. Doch das alles umzusetzen erfordert viel Training und Übung. Aus diesem Grund ab ins Training und 1000 Kettenfauststöße!!!
Vielen Dank an Sifu Donald Mak für den Denkanstoß zu unserer grundlegendsten Technik.
Verwendete Literatur:
Mak, Donald: Wing Chun Fighting Strategies: Part 1. Is Chain Punching Realstic and Effective? In: Wing Chun Illustrated. Issue 50, Oktober 2019.
*Mit blocken ist in unserem Fall immer ein keilendes Umleiten der Kraft gemeint, keine rohe Kraft gegen Kraft Aktion!